Januar 2022
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Schlanke Linie als Zukunftsmodell im Stahlbrückenbau

Stahlbau

Die neue Neckarbrücke ist ikonisches Entree von Stuttgart und ingenieurtechnische Pionierleistung zugleich. Diesen Status verdankt die viergleisige Eisenbahnbrücke über den Neckar ihrer innovativen Gestaltung als Stahlsegelbrücke mit fast 80 m Spannweite. Für ihre Stahlsegel kamen Stahlbleche von Dillinger zum Einsatz, die mit ihrer variabel einstellbaren Dicke die optimale Anpassung des Blechprofils an den Spannungsverlauf ermöglichen.


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Bild: Schlaich Bergermann Partner / Andreas SchnubelDie neue Neckarbrücke ist ikonisches Entree von Stuttgart und ingenieurtechnische Pionierleistung zugleich.
Bild: Schlaich Bergermann Partner / Andreas Schnubel
Die neue Neckarbrücke ist ikonisches Entree von Stuttgart und ingenieurtechnische Pionierleistung zugleich.

Stahlbau

Schlanke Linie als Zukunftsmodell im Stahlbrückenbau

Die neue Neckarbrücke ist ikonisches Entree von Stuttgart und ingenieurtechnische Pionierleistung zugleich. Diesen Status verdankt die viergleisige Eisenbahnbrücke über den Neckar ihrer innovativen Gestaltung als Stahlsegelbrücke mit fast 80 m Spannweite. Für ihre Stahlsegel kamen Stahlbleche von Dillinger zum Einsatz, die mit ihrer variabel einstellbaren Dicke die optimale Anpassung des Blechprofils an den Spannungsverlauf ermöglichen.

Text: Dillinger / Bilder: gem. Bildhinweisen

Der Entwurf der Neckarbrücke stammt von dem renommierten, unabhängig beratenden Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner (sbp) aus Stuttgart. 1980 gegründet, macht das Büro heute mit 190 Mitarbeitenden rund 40 Prozent seines Umsatzes mit Brückenbauprojekten.
Als Teil des Infrastrukturprojektes Stuttgart 21, in dessen Rahmen auch der Stuttgarter Hauptbahnhof neu gebaut und der Eisenbahnknoten Stuttgart neu geordnet wurde, ist die Neckarbrücke Teil der Magistrale Paris-München-Budapest. Durch den Umbau des vorhandenen Kopfbahnhofs zu einem tief liegenden Durchgangsbahnhof erhielt die Gleistrasse eine neue, um 90 Grad gedrehte Orientierung. Das bedingte den Ersatz der Bestandsbrücke durch einen Neubau für den S- und Fernbahnverkehr. 345 m lang und 25 m breit, hat die neue viergleisige Eisenbahnbrücke über dem Neckar Spannweiten von 77 beziehungsweise 74 m. An ihrer höchsten Stelle erhebt sie sich 15 m über dem Normalwasserspiegel des Flusses.

Stahlsegel statt Seile

Die neue Neckarbrücke besteht aus einem siebenfeldrigen Durchlaufträger. Markante Stahlsegel kennzeichnen die zwei Hauptfelder über dem Fluss. Beide Felder sind über die Stahlsegel und Zügelgurte an insgesamt neun Stahlmasten aufgehängt. Für die Stahlverbundkonstruktion entwickelte sbp ein Längstragwerk aus drei Hohlkasten-Stahlträgern. Dieses ist auf drei Hauptpfeilerreihen in Längsrichtung an den Aussenseiten und in der Mitte des Überbaus unverschieblich gelagert und wird durch die Stahlsegel gestützt. Auf diese Weise tragen die neun schlanken Stützen die enormen horizontalen Bremskräfte ab, die auf der viergleisigen Eisenbahnbrücke entstehen können. Ziel der Ingenieure von sbp war eine optisch leichte und transparente Brückenkonstruktion trotz der Spannweite von fast 80 m und der viergleisigen Eisenbahnlast. Voraussetzung dafür war ein oben liegendes Tragwerk mit Zügeln, die von Masten aus nach unten verlaufen. Anders als bei ähnlich konstruierten Schrägseilbrücken wählte sbp jedoch anstelle von Seilen eine Ausführung aus Stahlblechen und interpretierte somit das Modell einer klassischen Zügelgurtbrücke mit starren Zügeln neu.

Bild: DillingerLP-Bleche von Dillinger ermöglichen durch die über die Länge variabel einstellbare Dicke eine optimale Anpassung des Blechprofils an den Spannungsverlauf.
Bild: Dillinger
LP-Bleche von Dillinger ermöglichen durch die über die Länge variabel einstellbare Dicke eine optimale Anpassung des Blechprofils an den Spannungsverlauf.

 

Blechpakete aus zwei stehenden, mit umlaufenden Stirnfugen gefügten Blechen formen Zügel und Mastköpfe aller Segel. Nach dem Prinzip der Umkehr eines Bogentragwerks löste sbp die Zügel in Segel auf. Philipp Wenger, Technical Director bei sbp, erläutert den dabei zugrunde liegenden Gedanken: «Beim Bogen werden die Vertikalkräfte aus dem Überbau über die Bogenbeine als Druckkräfte abgetragen. Kehrt man dieses Prinzip um, so werden aus den Bogenbeinen rein durch Zugkräfte beanspruchte Zügel.» Er ergänzt: «Deshalb wurde für diesen umgekehrten Bogen ein unten leicht trompetenförmig aufgeweiteter und eher dünner Querschnitt gewählt, der nach oben hin schmal zuläuft und dabei zunehmend dicker wird.» Durch dieses ausgeklügelte Zusammenspiel von Fläche und Volumen wurde erreicht, dass die Spannungsausnutzung im gesamten Segel wegen der unterschiedlichen Dicke der Stahlbleche über die gesamte Länge gleich ist. Insgesamt wurden 18 Halbsegel mit identischer Geometrie zu den neun für die Brücke charakteristischen Segeln verschweisst. Die Segel tragen die Kräfte weitgehend membranartig ab und wurden aus über die Segelfläche variierenden Blechdicken gefertigt.

Bild: Schlaich Bergermann PartnerDie Zügel werden aus zwei längsgefügten Blechen mit jeweils veränderlicher Dicke von 35 bis 125 M illimetern hergestellt.
Bild: Schlaich Bergermann Partner
Die Zügel werden aus zwei längsgefügten Blechen mit jeweils veränderlicher Dicke von 35 bis 125 M illimetern hergestellt.

 

«Beim Bogen werden die Vertikalkräfte aus dem Überbau über die Bogenbeine als Druckkräfte abgetragen. Kehrt man dieses Prinzip um, so werden aus den Bogenbeinen rein durch Zugkräfte beanspruchte Zügel.» Philipp Wenger, Technical Director bei sbp

 

Massanzug aus ausgewählten Blechen

Für jede Zügelkonstruktion der beiden Aussenträger wurden jeweils zwei keilförmige Längsprofilbleche (LP-Bleche), deren Dicke von 35 mm bis 90 mm ansteigt, zu Blechpaketen verschweisst. Diese wurden zu 10,5 m langen Elementen mit einer Dicke von 70 bis 180 mm längsgefügt. Für die mittleren, deutlich höher beanspruchten Segel wurden bis zu 250 mm dicke Blechpakete aus den höherfesten Stahlgüten S460ML und S460QL benötigt. Da LP-Bleche jedoch nur im normalisierten Lieferzustand (beispielsweise S460NL) geliefert werden können, wurde für diese Zügel auf in Form gefräste Bleche zurückgegriffen. Für die zum Lastabtrag optisch wie ein Segeltuch gespannten Zügel mit sich nach unten verjüngendem Querschnitt lag für sbp die Verwendung von LP-Blechen nahe. Durch ihre in Längsrichtung im Walzprozess variabel einstellbare Dicke erlauben LP-Bleche eine optimale Anpassung des Blechprofils an statische, konstruktive und fertigungsbedingte Erfordernisse.  

Bild: Max Bögl GmbH & Co. KGDie Stirnfuge der eingesetzten hochfesten Feinkornbaustähle von Dillinger wurde blecheben verschliffen.
Bild: Max Bögl GmbH & Co. KG
Die Stirnfuge der eingesetzten hochfesten Feinkornbaustähle von Dillinger wurde blecheben verschliffen.

LP-Bleche reduzieren zeitintensive Bearbeitungen

Seit 1983 im Produktportfolio von Dillinger und kontinuierlich weiterentwickelt, gibt es heute in ganz Europa Referenzen für ihren erfolgreichen Einsatz im Brücken- und Hochbau. Grundsätzlich von Dillinger als Einfach-, Doppel- oder Mehrfachkeil lieferbar erübrigen LP-Bleche die sonst unvermeidliche kosten- und zeitintensive mechanische Bearbeitung oder das Anschweissen von Lamellenpaketen. Das senkt nicht nur den Materialeinsatz, sondern auch das Transport- und Montagegewicht. Durch Einsparung von Schweissnähten reduzieren sie zudem neben Fertigungs- und Prüfzeit auch anfallende Schweisskosten. So tragen sie unterm Strich - trotz ihrer aufwändigen Produktion und damit verbundenen höheren Gestehungskosten - zu einer Kosteneinsparung von bis zu zehn Prozent bei. Weniger Schweissnähte und die Möglichkeit, diese in weniger belastete Bereiche zu verlegen, erschliessen überdies sichere, ermüdungsfreie Konstruktionen.  

Bild: Max Bögl GmbH & Co. KGDie Mastkopf-Naht, die die 250 Millimeter dicken Bleche aus S460QL mit der Mastkopfplatte verbindet, erforderte eine ausgeklügelte Wärmebehandlung.
Bild: Max Bögl GmbH & Co. KG
Die Mastkopf-Naht, die die 250 Millimeter dicken Bleche aus S460QL mit der Mastkopfplatte verbindet, erforderte eine ausgeklügelte Wärmebehandlung.

Innovativer Stahl statt Beton

Bei dem Bau der neuen Neckarbrücke sprach generell aber auch ein weiterer Aspekt für den Einsatz von Grobblechen von Dillinger. Der Standort der Brücke liegt im Stuttgarter Heilquellenschutzgebiet: Bad Cannstatt ist nach Budapest der bedeutendste Mineralwasser-Standort in Europa - mit 44 Millionen Liter Schüttung pro Tag. Der Brückenneubau befindet sich in der Kernzone der durch artesisch gespanntes Mineralwasser unter sehr hohem Druck stehenden Gesteinsschichten. Die hier vorherrschenden natürlichen Druckverhältnisse durften durch den Bau nicht verändert werden, um eine Verletzung der Dichtschicht und damit Mineralwasser-Aufbrüche zu verhindern. Entsprechend hohe Restriktionen galt es bei den Bau- und Gründungsarbeiten zu beachten. Deshalb wurde das Längstragwerk auch - anders als ursprünglich geplant - anstelle von Beton mit Stahl realisiert. Hierdurch konnte das Eigengewicht der Brücke um gut 20 Prozent reduziert werden, sodass deutlich weniger Lasten in den Baugrund abzuleiten waren.
Dillinger lieferte insgesamt 1 600 t Stahl an Max Bögl - vor allem Sonderstähle in grossen Blechdicken und -formaten. 169 t entfielen dabei auf LP-Bleche für die Zügel aus Baustählen der Güten S355J2+N, S355N und S355NL. Für die Längs- und Querträger, Mastkopfbleche und nicht dickenvariablen Teile der Segel kam vor allem thermomechanisch (TM) gewalzter Stahl zum Einsatz, darunter auch über 30 t schwere, extrem grossformatige Bleche der Güte S460ML. Durch die grossen Formate dieser TM-Bleche konnte die Zahl der Schweissnähte deutlich reduziert und durch die höhere Festigkeit zusätzlich Gewicht eingespart werden. Zugleich gewährleistete ihr niedriges Kohlenstoffäquivalent exzellente Verarbeitungseigenschaften und Zähigkeiten, sodass sie ebenso zur Sicherheit der Konstruktion wie zur Wirtschaftlichkeit der Fertigung beitrugen.

Bild: Schlaich Bergermann Partnersbp stellte umfangreiche Berechnungen zur Ermittlung der Ermüdungsfestigkeit der Mastkopfnähte an: Die roten Bereiche dieser Kerbspannuntersuchungen sind die am stärksten belasteten Bereiche.
Bild: Schlaich Bergermann Partner
sbp stellte umfangreiche Berechnungen zur Ermittlung der Ermüdungsfestigkeit der Mastkopfnähte an: Die roten Bereiche dieser Kerbspannuntersuchungen sind die am stärksten belasteten Bereiche.

Neuralgischer Mastkopfanschluss

Eine grosse Herausforderung für Konstruktion und Fertigung bedeutete die Befestigung der stehenden, bis zu 250 mm dicken Mastkopfbleche aus S460QL auf den Mastkopfplatten. Durch den Kraftfluss zwischen Segeln und Masten sind die Mastköpfe, an die beidseitig die Zügel anschliessen, besonders neuralgische Punkte. Blechdicke und der eingesetzte hochfeste Feinkornbaustahl von Dillinger erforderten neben einer Zustimmung im Einzelfall auch eine Sondergenehmigung der Deutschen Bahn, da deren Regelwerk nur eine maximale Blechdicke von 100 mm erlaubt. Für die Experten von sbp galt es deshalb, die geforderte Ermüdungsfestigkeit dieser hochbelasteten Nähte unter anderem anhand umfangreicher Struktur- und Kerbspannungsuntersuchungen an Volumen-FE-Modellen nachzuweisen. Für die schliesslich auf dieser Basis kerbarm ausgeführte umlaufende Schweissnaht mit Kontaktstoss wurden die grossformatigen Bleche zunächst auf fast 500 Grad vorgewärmt und während des komplexen Schweissvorgangs sorgsam vor Abkühlung geschützt.  ■

 

Bautafel 

Objekt:

Neckarbrücke, Stuttgart (D)

Entwurf / Planung:

Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner, Stuttgart

Ausführung:

Bauunternehmen Max Bögl GmbH & Co. KG, Neumark (D)

Blechlieferant:

AG der Dillinger Hüttenwerke, Dillingen (D)